Die Arbeit mit dem eigenen Nervensystem trägt viele Früchte. Beeindruckt bin ich zum Beispiel immer wieder davon, wie viel mehr Verständnis, Offenheit und Akzeptanz in mein Leben Einzug erhalten haben. Das bemerke ich an den unterschiedlichsten Stellen und möchte ich auch heute wieder an einem Beispiel verdeutlichen.
Den Großteil meines Lebens nun ernähre ich mich vegetarisch und seit den letzten 10 Jahren zudem vegan. Gestartet bin ich damals als empörter Teenager, den das Tierleid umtreibt, der beginnt Verantwortung für den eigenen Konsum zu übernehmen, und der aber Gleiches auch von seinem Umfeld erwartet. Die Strenge und Ansprüche, die ich an mich selbst stellte, projizierte ich so auch auf andere und nahm sie ganz schön in die Pflicht.
Im Kampf gegen die Ungerechtigkeit
Aus Nervensystem-Perspektive befand ich mich hier ganz viel in Kampf-Reaktionen. Rund um das Thema Ernährung war für mich sehr viel Widerstand spürbar, Gefühle der Ungerechtigkeit übermannten mich regelmäßig, und ich wollte dem zumindest etwas entgegensetzen. Ich begeisterte mich schon seit jeher für Tierrechts-Aktivismus und beteiligte mich an Infoständen und Demos in der Fußgängerzone aus einer wahnsinnig kämpferischen Energie heraus.
Insbesondere als ich den Sprung hin zu vegan geschafft hatte, hatte ich lange Zeit nichts als Unverständnis übrig für Menschen, die immer noch Tierprodukte essen. Ich ging sehr hart ins Gericht mit meiner Umwelt, aber auch mir und meiner eigenen Vergangenheit. Noch weniger Unverständnis hatte ich nur übrig für die Leute, von denen man hörte, sie seien vegan gewesen, aber jetzt zurück auf vegetarisch gewechselt, oder zweckgebunden vegetarisch/omnivor unterwegs, z.B. auf Reisen oder Familienfeiern. Meine Überzeugung und Identifizierung mit der veganen Ernährung als Nonplusultra war so rigide, dass ich gänzlich den Bezug verlor für die Wahrnehmungen, Empfindungen, Lebensrealitäten und Bedürfnisse meiner Mitmenschen.
Die Härte wich dem Mitgefühl
Wie ich bereits in einem anderen Blogpost beschrieben habe, wich diese Härte im Laufe der letzten Jahre dem Mitgefühl. Dank Nervensystem-Regulation begann ich mich weniger in „Überlebensmodi“ durch den Alltag zu bewegen, und Balance und Gelassenheit wurden spürbarer. Das Bedürfnis, für oder gar gegen etwas kämpfen zu müssen, nahm mehr und mehr ab.
Ist die eigene Ernährung eine riesige Stellschraube in Sachen Eigenverantwortung, ökologischer Fußabdruck, und Wohlbefinden? Selbstverständlich!
Halte ich eine vegane, möglichst saisonale, regionale, ökologische Ernährung für die verträglichste für Mensch und Planet? Aber sicher doch!
Glaube ich zudem, dass Ernährung hochindividuell ist und es keine pauschalen Aussagen geben kann, die für alle gelten? Yes.
Friedvolle Ernährung ohne Label und Rigidität
Aus all dem stricke ich mir aber keine Identität mehr. Lange Zeit erlebte und verkaufte ich mich als kompromisslos vegan, kämpferisch und fordernd. Das war nicht nur unfassbar anstrengend und ermüdend, sondern wurde auch schlicht überflüssig, als ich mich aus Nervensystem-Sicht hin zu mehr Balance bewegte.
Ich gehe nun insgesamt in mehr Frieden durch die Welt und entscheide mich hieraus ganz leise und ohne viel Tamtam weiter für friedvolle Ernährungsoptionen. Die harten Grenzen und Ansprüche an mich selbst verschwimmen, im besten Sinne. Ich brauchte sie damals, um Orientierung und Halt zu haben. Heute kann ich sie ziehen lassen und wertfrei im Moment sein.
Ich brauche mir kein Label mehr an meine Ernährung zu pinnen, geschweige denn dies zu einer Identität von mir heran wachsen zu lassen. In Eigenverantwortung und mit Sinn und Verstand kann ich essen was ich für angemessen halte, ohne Abwertungen, Enttäuschungen, Selbstgeißelung. Da ist, wie gesagt, viel mehr Verständnis, Offenheit und Akzeptanz vorhanden, die mir überhaupt erst diese Räume öffneten. Die Rigidität von damals durfte weichen und ich atme auf bei jedem Label, dass ich für mich ablege.